Reflexion

Raum für Nachdenken und Vordenken
Lebendige und innovative Veranstaltungen designen

Veranstaltungen können Freiräume sein. Pausen vom Alltag, Orte der Reflexion. Um dies zu ermöglichen, muss es Phasen geben, in denen die Teilnehmenden Inputs verarbeiten und über zentrale Themen und Herausforderungen nachdenken können.

Viele Kongresse, Tagungen und Conventions sind nach wie vor sehr „input-lastig“. Sie werben mit „150+ Speaker:innen“ und einem vollen Programm. Oft sind auch die sogenannten Workshops in Wirklichkeit keine Werkstätten, in denen alle gemeinsam an einer neuen Zukunft basteln oder miteinander experimentieren, sondern wieder nur Vortragsveranstaltungen. „Viel hilft viel“ scheint das Credo zu sein. Aber stimmt das? Nicht ganz!

Mehr Lerntiefe

Natürlich entscheiden sich Gäste oft für eine Veranstaltung, weil sie sich neue Erkenntnisse erhoffen und/oder prominente Personen live erleben wollen. Gleichzeitig zeigen Erkenntnisse der Kognitionsforschung, was der Volksmund schon immer wusste: Auch geistig muss der Mensch nicht nur essen, sondern auch verdauen. Das Gehörte „sacken lassen“. Sportcoaches wissen, dass Muskeln nicht während des Trainings, sondern in den Pausen wachsen. Ähnlich verhält es sich mit dem Gehirn: Neue Verknüpfungen von Nervenzellen - und das ist Lernen auf biologischer Ebene - entstehen in den Phasen, in denen Informationen verarbeitet und verankert werden.

Wenn man nicht will, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer nach dem dritten Vortrag schon wieder vergessen haben, was im ersten vorgetragen wurde, ist ein ausgewogeneres Veranstaltungsdesign erforderlich. Faustregel: Nach jeder größeren „Informationsdusche“ sollte den Teilnehmenden die Möglichkeit gegeben werden, das Gehörte und Erlebte zu reflektieren. Allein, zu zweit oder in Kleingruppen.

Lernformat Designing.Events 2024
Lebendige und innovative Veranstaltungen designen
Mehrwert durch Multiperspektive

Die gemeinsame Reflexion kann einen wichtigen Mehrwert schaffen. Nehmen wir einen Vortrag über ein komplexes Thema, das für die Lebenswelt der Zuhörenden relevant ist (was es im besten Fall sein sollte). Zwangsläufig hört jede und jeder etwas anderes als die anderen. Das liegt z.B. an unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Bedürfnissen und kognitiven Filtern. Mit anderen Worten: Der Vortrag ist Gegenstand vielfältiger „selektiver Wahrnehmung“. 

Eine gut angeleitete gemeinsame Reflexion, z.B. in Triaden (Dreiergesprächen), kann wertvoll sein, weil die eigene Perspektive durch zwei weitere ergänzt wird. Gerade bei komplexen Themen und Problemen hat diese Mehrperspektivität einen höheren Wahrheitsgehalt, als wenn man sich nur im eigenen Gedankenkorridor bewegt.

Reflexion stärkt Partizipation

Befragungen von Veranstaltungsbesucher:innen zeigen: Das Bedürfnis, selbst einen Beitrag zu leisten, wächst. Aktiv werden, mitgestalten, selbstwirksam sein. Selbstreflexion ist ein Schlüssel, um genau zu wissen, wo man sich einbringen möchte. In gutem Kontakt mit sich selbst zu sein, schützt auch davor, sich zu überfordern - sei es geistig, emotional oder körperlich.

Reflexionsräume öffnen

Beim Eventdesign ist zu berücksichtigen, dass die Teilnehmenden unterschiedliche Fähigkeiten zur Selbstreflexion mitbringen. Dennoch ist es nicht schwierig, zur Reflexion anzuregen. Manchmal reicht es, sie nicht zu verhindern! Hier sind einige Interventionen, die das Nachdenken über Themen oder die Selbstwahrnehmung erleichtern können:

  •  1 – 2 – alle. Es beginnt mit ein paar Minuten Stille, in denen jede:r für sich reflektieren kann. Danach gibt es einen Austausch zu zweit oder zu dritt: Was ist persönlich wichtig vom Gehörten/Erlebten? Und schließlich besteht die Möglichkeit, im Plenum die wesentlichen Erkenntnisse zu teilen.
  • Geh-Spräch. Das Format stammt aus dem Wandercoaching. Zwei Teilnehmende gehen eine Zeitlang (20 – 30 Minuten) gemeinsam und denken „by the way“ über eine Leitfrage nach. Auf dem Hinweg spricht Person A und Person B hört nur zu; gerne mit unterstützenden Fragen, aber nicht mit Fragen, die auf sich selbst umlenken. Auf dem Rückweg wechseln. Am Ende des gemeinsamen Weges kann man sich gegenseitig Feedback geben. Es gibt verschiedene Varianten des Geh-Spräch - was immer bleibt, ist die Bewegung.
  • Mad-Sad-Glad. Teilnehmende reflektieren ihre emotionalen Reaktionen in drei Kategorien: Mad (Frustration), Sad (Enttäuschung) und Glad (positive Aspekte). Diese Methode berücksichtigt emotionale Dimensionen und fördert eine ganzheitliche Reflexion.
  • Fishbowl. Ein weltweit bewährtes Format des gemeinsamen Nachdenkens. Im „Aquarium“, einem inneren Kreis, sprechen vier oder fünf Teilnehmende über ein Thema. Dialogisch, nach den Regeln des Active Listenings (d.h. nicht werten; mit offenem Herzen zuhören). Ein Stuhl wird immer wieder freigemacht, damit Teilnehmende aus äußeren Kreisen in das Gespräch einsteigen können. Geeignete Fragen für die Reflekxon sind z.B.: Was bedeutet das Thema der Veranstaltung für mich? Wie gehe ich persönlich mit diesem oder jenem Problem um? Was nehme ich aus dem heutigen Tag für meinen Alltag mit?
  • Journaling. Die schriftliche Reflexion ist eine Methode zur Vertiefung des Gelernten. Es aufzuschreiben bedeutet, „auf den Punkt zu kommen“ und nur das Wesentliche festzuhalten. Vor allem, wenn die Schreibzeit begrenzt ist. Die Methode funktioniert am besten, wenn wirklich alle gleichzeitig schreiben und keine konkurrierenden Aktivitäten angeboten werden. Menschen mit einem fotografischen Gedächtnis hilft der Blick auf das Blatt, um das Gelernte im Gedächtnis zu verankern.
  • Reflexionsfragen. Die Moderation kann durch gute Leitfragen Hilfestellung beim Reflektieren leisten. Beispielsweise zu Beginn einer Veranstaltung: „Was ist deine Intention heute?“ Zwischendurch: „Was ist für dich gerade stimmig oder unstimmig?“ Oder zum Ende: „Was hat dich heute am meisten inspiriert? Was möchtest aufgrund des heute Erlebten im Alltag ändern?“
  • Fünf-Finger-Methode. Eigentlich eine Eselsbrücke für strukturiertes Feedback, aber auch geeignet, um für sich ein Fazit einer Veranstaltung zu ziehen. Daumen: Was finde ich super? Zeigefinger: Das fällt mir auf!  Mittelfinger: Was hat mir nicht gefallen? Kleiner Finger: Was ist zu kurz gekommen?
  • Gedankenmosaik. Teilnehmende halt auf kleinen Kärtchen fest, was ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist oder welche Gedanken sie als besonders bedeutsam empfinden. Beim Verlassen des Raumes werden diese Karten an eine Pinnwand geheftet – sichtbar für alle. So entsteht eine wachsende Sammlung an Eindrücken, Impulsen und Erkenntnissen. Die Sammlung macht individuelle Gedanken sichtbar, stärkt den gemeinsamen Erkenntnisprozess und bietet der Moderation wertvolle Anknüpfungspunkte.
Lebendige und innovative Veranstaltungen designen
Lebendige und innovative Veranstaltungen designen
Eigene Bedürfnisse spüren

Bei längeren Veranstaltungen ist es wichtig, den Teilnehmenden gedankliche „Atempausen“ zu gönnen. Manchmal reicht eine Minute Stille, manchmal reichen drei tiefe Atemzüge, zu denen die Moderation einlädt, um innerlich einen Schritt zurückzutreten. Und sich zu fragen: Wie geht es mir gerade? Mit wem möchte ich mich austauschen? Was braucht der Körper? Wohin zieht es mich (wenn parallele Sessions angeboten werden)?

Der Mensch ist in der Regel mental schneller als emotional. Es braucht Zeit, um zu spüren, wie man sich gerade fühlt und wo es vielleicht innerlich rumort. Darin liegt die geheime Supermacht der Pausen, in denen die äußere Hektik tatsächlich einmal ruhen darf (was oft nicht der Fall ist, weil sie mit Essen, Toilettengang, Mailcheck, ... vollgestopft sind).

Gerade weil sich Menschen im Arbeitsalltag, in dem sie funktionieren und Leistung bringen müssen, oft keinen Raum für Reflexion nehmen, können Veranstaltungen eine gute Gelegenheit sein, innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten und sich neu zu orientieren.

Aus eigener Erfahrung

Vielleicht kennen Sie das aus dem hektischen Berufsalltag: Manchmal hätte man sich durch kurzes Nachdenken viel unnötige Arbeit ersparen können. Das zeigte sich auch bei einem Labor des micelab:bodensee in Andelsbuch, Bregenzerwald. Die Teilnehmenden bekamen eine Aufgabe, die sie nur gemeinsam lösen konnten. Ein großer Kreis im Sand markierte einen „Säureteich“ (Betreten verboten!), in dessen Mitte ein „Juwel“ lag, symbolisiert durch einen Apfel. Dieses Juwel galt es zu bergen. Die einzigen Hilfsmittel waren lange, stabile Seile. Eineinhalb Stunden lang diskutierten die Teammitglieder wild und laut. Oder probierten hektisch herum. Innehalten, kurz nachdenken? Fehlanzeige.

Erst als nicht nur die Lauten, sondern auch die Nachdenklichen in der Gruppe zu Wort kamen, war die Lösung gefunden. Schließlich wurden die Seile so über den Teich gespannt und von den Stärksten gehalten, dass die leichteste Teilnehmerin, schwebend wie eine Elfe, das Juwel aus der Mitte retten konnte. Keine Frage, dass bei dieser Aktion Hirn, Herz und Hand gleichermaßen gefordert waren. Eine Lernerfahrung, die unvergesslich bleiben wird, einschließlich der – gedankenlosen – Irrwege auf dem Weg zur Lösung.

"Erst als nicht nur die Lauten, sondern auch die Nachdenklichen in der Gruppe zu Wort kamen, war die Lösung gefunden."
Michael Gleich Kurator & Begleiter micelab:bodensee